Aktualisiert: 22. Sept. 2021
Ausbildung, Karriere und Familie, Rente – wir kennen dieses lineare Modell von Leben und Arbeiten, das pfeilartig nach oben schießt, und am Höhepunkt langsam abflacht. Aber wäre ein Leben in Kreisläufen vielleicht sinnvoller? Ein Artikel über den Mut zum Rückzug, und darüber was Weiterentwicklung auf individueller Ebene mit nachhaltigen und innovativen Unternehmenskulturen zu tun hat.
Warum lineares Denken ein Auslaufmodell für Wirtschaft und Leben ist und warum Wachstum und Veränderung Stillstand benötigen.
Stetige Skalierung von Geschäftsmodellen und exponentielles Wachstum sind oft neue Leitbilder für Unternehmen von heute. Ein profitabler und ertragreicher Sommer folgt dem nächsten und, wenn die Sonne mal nicht scheinen will, hacken wir das System oder uns selbst. Work hard, play hard: Frauen und Männer geben alles.
Diese Narrativen von den ewigen Produktivitätshöchstleistungen fangen jedoch an zu bröckeln, wenn es ganz klassisch um Familienplanung oder -organisation geht oder man einfach nicht mehr kann – bedingt durch die Pandemie oder einfach, weil sich eine neue Lebensphase ankündigt. Wer dann nicht als “Totalausfall” gelten möchte, weil man sich die Zeit für diese persönliche Transformation nimmt, sitzt schnellstmöglich wieder am Schreibtisch. Denn: Diversität in Teams beschränkt sich im aktuellen Fokus meist auf die Geschlechtsidentität oder Herkunft, und selten auf die Lebensphase, den Familienstand oder einen möglichen Aufwand für Sorgearbeit hinter den Kulissen.
So sehen wir auf den Plakaten für neue Arbeit und diverse Teams oft nur die jungen und hungrigen. Kanban Boards, FTEs, lineare Lebensläufe - Reliquien aus dem Industriezeitalter, angepasst an die neue Zeit.
Tritt man in die Rolle der Mutter, des Vaters, einer Person in einer Lebens- oder Schaffenskrise oder Verpflichtung für Sorgearbeit für Angehörige, merkt spätestens dann, dass wir mit dem New Work Konzept des ortsunabhängigen und flexiblen Arbeitens, einfach nur das Hamsterrad gewechselt haben, das meist mit einer viel höheren und gnadenlosen Geschwindigkeit läuft.
Die Kantine oder Gang zur Kaffeemaschine fallen weg und somit auch die informellen Begegnungen, die uns sonst einen Blick hinter die Kulissen blicken ließen. Wenn früher noch die Kollegen im Büro gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, ist man nun selbst gefragt aktiv um Hilfe zu bitten und das ist für die meisten nicht einfach.
Tabuisiert und pathologisiert werden normale Übergangsphasen des Lebens in denen man sich weiterentwickelt oder gar komplett verändert - ob mit oder ohne Partner oder Kindern. Die Entscheidung für Familie passiert ja meist bewusst und es ist gesellschaftlich akzeptiert, dass sich dieses Leben auch einspielen muss. Aber die Tatsache, dass eine Depression oder ein Burnout nicht nur eine Dysfunktion ist, die schnellstmöglich behoben werden sollte, sondern ein auch ein Zeichen für den Beginn eines persönlichen Weiterentwicklungsprozesses sind, der einfach Zeit und Unterstützung braucht, wird wenig thematisiert. In den meisten Unternehmen fehlt es an Antworten wie man nicht nur präventiv, sondern, wenn es dann soweit ist auch unterstützend eingreifen kann.
Die Frage ist meist: “Wie machen wir die Person wieder so wie sie früher war?” anstatt zu fragen: “Wie unterstützen wir die Person bestmöglich in seiner oder ihrer natürlichen Veränderung?
Nun werden manche die Frage stellen: Warum sollte eine Organisation Sorge tragen für den mentalen oder familiären Status seiner Mitarbeiter? Die Antwort, meiner Meinung nach, ist recht simpel: Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter, der sich im Namen von kurzfristiger Produktivität keine Zeit für die persönlichen Wachstumsprozesse nimmt, ist langfristig nicht für ein Unternehmen einsetzbar. Den Mut zu mehr Veränderung, den sich nun viele Unternehmen von ihren Mitarbeitern wünschen, ist nicht möglich in einer Kultur, die auf individueller Ebene stets nach dem Prinzip agiert, dass Mitarbeiter immer auf dem gleichen Niveau bleiben.
Übergänge in neue Lebensphasen sind schwierig, dunkel, undefiniert, unplanbar und brauchen Zeit. Wie in jeder Hero Journey muss die Held*in vorerst abtauchen, den Dämonen ins Gesicht sehen, um dann mit neuen Erkenntnissen zurückzukommen. Das ist so im Persönlichen und auch bei der digitalen oder Geschäftsmodelltransformation.
Meiner Meinung nach werden Unternehmen, die in Zukunft diesen persönlichen Veränderungsprozessen bewusst Raum geben können, diejenigen sein, die Veränderung und Wachstum in ihrer DNA einbetten werden, was sich dann auch positiv auf die Innovationskultur und Produktivität auswirken wird.
Hierzu brauchen wir jedoch ein anderes Konzept von Produktivität, das nicht mehr nur in steilen Linien nach oben, sondern in natürlichen Kreisläufen abläuft. Ein Modell von einem Menschen, der sich stets weiterentwickeln und verändern darf, der mit dem Unternehmen und sich den veränderndem Bedingungen wächst. Das Denkmodell ist eigentlich sehr einfach und orientiert sich an den natürlichen Zyklen, die wir aus der Natur kennen: Man pflanzt den Samen, pflegt die Pflanze, erntet die Blüte oder die Frucht und wartet erneut bis der neue Samen wieder keimt. Wichtig dabei ist das Bewusstsein, dass Geduld, ein Anpassen an äußere Umstände und auch ein etwaiges Umdenken zum Ertrag notwendig ist. Dies betrifft die Planung und Umsetzung von Produkten und die Entwicklung des Personals in der Organisation der Zukunft.
Ich bin mir sehr sicher, dass die Unterstützung dieses Prozesses sich auch auf die Innovations- und Transformationskraft des Unternehmens auswirken, weil man durch das unterstützen der Individuen gleichzeitig stetiges Wachstum anstatt von Bewahrung des Status Quo ins Unternehmen einlädt.
Die New Work Bewegung: eine zarte Pflanze, die nun stärkere Wurzeln braucht.
Wie also könnte ein Konzept für New Work aussehen, damit auch dies wirklich menschlich und nachhaltig anstatt nur technologisiert und effizienzgetrieben gelebt werden kann? Folgende drei Ideen, habe ich hier skizziert, damit auch New Work starke Wurzeln bekommt:
1. Diversität in Teams im Hinblick unterschiedliche Lebensphasen und nachhaltigen Projektoutput beachten
Um nachhaltige Ergebnisse und gesunde Teamproduktivität zu ermöglichen, sollte ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, welche Bedürfnisse die Individuen in Teams im Laufe des Projektes haben. Wie ist ein Projekt geplant? Wie definiert man eine gesunde Ressourcenauslastung? Kann jemand mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen die volle Leistung bringen oder braucht das Projekt mehr Ressourcen, um die Deadline zu stemmen ohne, dass die Arbeitslast ungleich verteilt werden muss? Welche Angebote gibt es für Menschen in Veränderungsphasen und wie schaffen wir – politisch und unternehmensseitig - Bedingungen, dass sie nicht sofort aus der Arbeitswelt herausfallen? Welche neuen Normen, Rituale und Regeln muss es geben, damit wir den Menschen und seine Wandelsprozesse wirklich ins Zentrum der Organisation stellen?
2. Mentale Gesundheit im Fokus von Personalabteilungen und Gewerkschaften in der Zukunft?
Wie Arbeitssicherheit und Arbeitszeiten wird der Schutz und Bewusstsein von mentaler Gesundheit immer stärker in den Fokus von Personalabteilungen und Gewerkschaftsarbeit rücken, denn Ausfall durch chronische Krankheiten, Depressionen und Burnouts steigen in rasanten Geschwindigkeiten. Ein Bewusstsein über die Identifikation von toxischen Unternehmensbereichen in denen sich die Ausfälle häufen und Modalitäten zur Unterstützung, Schulung und Prävention sind Felder, die in Zukunft unabdingbar sein werden. Eine Abteilung für mentale Gesundheit in der das Thema nicht als Krankheit, sondern Präventions- und Expertenstelle gesehen wird, sehe ich als ein Muss in der Zukunft. Hiermit ist nicht nur der „Feel Good Manager“, der den Yoga Kurs oder Massagen im Büro organisiert, welche mit Sicherheit zuträglich sind für die tagtägliche Motivation und Balancierung des Nervensystems für kreative Arbeit im Team. Es geht hier um neue Normen und Rituale und ein Vertraut-sein mit tiefen Wandelsprozessen, Trauma Arbeit und neuen Ansätzen und einem neunen Regelbuch für mentale Gesundheit und einen ganzheitlichen Blick auf Individuen in Unternehmen.
3. Mehr Kreisläufe in der Unternehmens-DNA
Neue Märkte erfordern eine stetige Veränderung. Veränderung erfordert ein Loslassen: Ein Loslassen der alten Identität und der Art, Dinge zu erledigen. Dieser Prozess ist schmerzhaft und muss in den meisten Unternehmen erst gelernt werden, denn Rückzug und Stillstand ist im Unternehmensalltag mit dem verbunden, was man um jeden Preis vermeiden will.
Was wäre, wenn Rückzug und Stillstand einplanen und vertrauen könnten, dass wir nach der Verwandlung stärker wieder herauskommen? Ganz nach dem Vorbild der Natur? Wie im Gedicht von Camus könnten wir dann vielleicht sehen, dass nach einem kalten Winter, ein unbesiegbarer Sommer kommen kann.
Quellen:
Susanne Garsoffky, Britta Sembach: Die Alles ist möglich Lüge, Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind, Pantheon, München 2014
Podcast: